
Mit rund 400.000 Betroffenen stellt Morbus Parkinson in Deutschland nach Alzheimer die zweithäufigste neurodegenerative Erkrankung dar. Typische Symptome sind Bewegungseinschränkungen durch Zittern und Muskelsteifheit sowie Störungen des Gleichgewichts. Der fortschreitende Verlust von Nervenzellen im Gehirn ist nicht heilbar; mit individuellen Therapien und einer medikamentösen Behandlung lässt sich die Krankheit jedoch oft über Jahre hinweg gut kontrollieren. Zur Verbesserung von Feinmotorik, Koordination und Reaktionszeit greifen zudem immer mehr Patientinnen und Patienten zum Tischtennisschläger: Während beim rhythmischen Ballwechsel ihre Symptome in den Hintergrund treten, bewahrt sie der gemeinschaftliche Sport vor Passivität und Isolation.
Tischtennis, so berichtet Thorsten Boomhuis, spiele er schon seit seiner Jugend. Ausgerechnet bei der Ausübung des geliebten Sports vernahm er Anfang 2012 plötzlich erste motorische Beeinträchtigungen: „Ich habe damals noch mit rechts gespielt und konnte plötzlich keine Konterbälle mehr ausüben. Die Schlaghand war beim Vollziehen der Bewegung nicht mehr zu kontrollieren.“ Als später noch zusätzlich Nackenschmerzen auftraten, konsultierte der Jurist aus dem niedersächsischen Nordhorn einen Orthopäden. Dieser kam nach acht Massage-Sitzungen zu dem Schluss, dass die Behandlung nicht zielführend sei – vielmehr stand für ihn eine Parkinson-Erkrankung fest. Thorsten Boomhuis, zu diesem Zeitpunkt gerade mal 38 Jahre alt, verließ perplex die Praxis: „Das war der 17. Dezember, also ein schönes Weihnachtsgeschenk. Keine zwei Monate später hatte ich dann aufgrund der neurologischen Diagnose die Gewissheit.“ Parkinson, eine chronisch fortschreitende, neurodegenerative Erkrankung, führt unter anderem zu steifen Muskeln (Rigor), verlangsamten Bewegungen (Bradykinese) und einem unkontrollierbaren Zittern (Tremor). Die Symptome der Erkrankung entwickeln sich schleichend; meist treten sie einseitig auf und beeinträchtigen die betroffene Person im Verlauf zunehmend im Alltag und in ihrer Selbstständigkeit.
Neben diesen körperlichen Handicaps geht die Erkrankung für nicht wenige Patientinnen und Patienten auch mit psychischen Belastungen einher. Ein offener Umgang war Thorsten Boomhuis daher von Beginn an wichtig: „Den Versuch, die Symptome im Alltag zu verbergen, empfinde ich als nicht hilfreich. Schon am Tag nach meiner Diagnose habe ich meinen Kolleginnen und Kollegen auf der Arbeit erzählt, dass ich an Parkinson erkrankt bin. Als Unternehmensjurist war mir schnell klar, dass es nicht lange gut gehen würde, wenn ich meine Einschränkungen verheimliche.“ Dies sei laut Boomhuis zwar immer auch eine Frage des Umfelds – um Missverständnissen, inneren Druck und einer zunehmenden Isolation vorzubeugen, empfehle es sich jedoch, nahestehende Personen einzuweihen. Denn Stress und Einsamkeit, das belegen mittlerweile auch Studien, können den Erkrankungsverlauf beschleunigen. Das genaue Gegenteil gilt für körperliche Aktivität: Die Deutsche Gesellschaft für Parkinson und Bewegungsstörungen (DPG) weist darauf hin, „dass Bewegung und Sport effektive Möglichkeiten sind, um den Verlauf der Parkinson-Krankheit positiv zu beeinflussen. Bewegungstherapie verbessert sowohl die Motorik als auch die Lebensqualität.“ Die genaue Art der Bewegung sei dabei laut DPG eher zweitrangig. Für Thorsten Boomhuis aber war ohnehin schnell klar: Tischtennis soll es sein.
Das Zittern tritt in den Hintergrund

Der Sport an der Platte lebt von schnellen Reaktionen, einer exakten Koordination, Orientierung und Rhythmus. Wie geht all das mit der Muskelsteifheit, den Gelenkbeschwerden und Gleichgewichtsstörungen einer Parkinson-Erkrankung zusammen? „Beim Tischtennis weiß man nie, was als nächstes passiert“, erklärt Thorsten Boomhuis. „Dieses Antizipieren schult sämtliche Gehirnregionen. Parkinson beeinträchtigt die gewollten Handlungen eines Menschen, doch selbst bei einem langsamen Ballwechsel ist Tischtennis noch zu schnell, um jeden Spielzug zu planen. Der Sport basiert also auf gelernten Bewegungen und abgespeicherten Reflexen, die von der Erkrankung nicht berührt werden.“ Wenn Thorsten Boomhuis den kleinen weißen Ball übers Netz jagt, treten die Bewegungseinschränkungen und das Zittern somit in den Hintergrund. Eine Erfahrung, die ihn damals optimistisch nach vorn blicken lässt: Im Jahr 2019 nimmt er gemeinsam mit zwei Sportkameraden an den Tischtennis-Weltmeisterschaften für Parkinson-Erkrankte in New York teil – und sichert sich dort prompt Gold im Doppel und Silber in der Einzel-Klasse. Vor Ort stößt er auch auf den international tätigen Verein PingPongParkinson (PPP), der 2017 vom US-amerikanisch-kroatischen Musiker Nenad Bach ins Leben gerufen worden ist. Für Thorsten Boomhuis wird schnell klar: Auch in Deutschland soll Tischtennis als erfolgreiche Parkinson-Therapie an Popularität gewinnen.
Im Frühjahr 2020 wurde der PingPongParkinson Deutschland e.V. im heimischen Nordhorn schließlich ins Leben gerufen. Die Mission: Menschen mit der Erkrankung aus ihrer oft selbstgewählten Isolation zu befreien und ihnen durch die Teilnahme am Tischtennis ein aktives und erfülltes Leben zu ermöglichen. Der Mitbegründer und 1. Vorsitzende schaut zurück: „Nie im Leben hätten wir damals daran gedacht, welche Entwicklung der Verein über die Jahre nehmen würde. Als wir das 100. Mitglied begrüßen durften, war das bereits ein echter Meilenstein. Heute sind es fast 3.000 Sportbegeisterte!“ Auch zählt der Verein mittlerweile namhafte Ehrenmitglieder wie den geistigen Vater Nenad Bach oder Jörg Roßkopf, einer der weltbesten Tischtennisspieler und amtierender Trainer der deutschen Nationalmannschaft. Die Ausübung des Sports, so die Zielsetzung von PPP, soll für jedermann mit Parkinson möglich sein – völlig unabhängig von den persönlichen Eignungen und Fertigkeiten. Neben dem Kampf gegen die Verschlechterung der Symptome arbeitet der Verein aktiv an Beratungsangeboten für Betroffene und Angehörige, nimmt an wissenschaftlichen Kongressen teil und engagiert sich darüberhinaus in mehreren Parkinsonnetzwerken. „Auch sind wir mit Universitäten im Gespräch, um die Effekte von Tischtennis bei neurologischen Erkrankungen weiter zu erforschen“, ergänzt Thorsten Boomhuis. „Wenn ich auf die steigende Zahl unserer aktiven Mitglieder schaue, ist dies allerdings bereits der beste Beweis für die Wirksamkeit.“
Feinmotorik fördern und Bewegungsabläufe lockern

Eine Parkinson-Erkrankung entwickelt sich durch den Verlust von Nervenzellen in der sogenannten Substantia nigra. Diese Region im Gehirn produziert den Botenstoff Dopamin, der wiederum für die Kontrolle von Bewegungen notwendig ist. Mangelt es dem Gehirn an diesem Botenstoff, treten die für Parkinson charakteristischen Symptome wie Muskelstarre und Muskelzittern auf. Während die regelmäßige Medikamenteneinnahme für den Ausgleich dieses Dopaminmangels unerlässlich ist, stellen Sport und Bewegung einen weiteren wichtigen Therapiebaustein dar. Die rhythmischen Ballwechsel beim Tischtennis fördern die Feinmotorik und lockern die Bewegungsabläufe der Spielenden. Manch einer schreibt dem sanften Klang des klackernden Balls gar beruhigende Effekte zu. Jegliche Stimulation, so weiß man bei PingPongParkinson, kann die Lebensqualität der erkrankten Person verbessern. Ein weiteres Anliegen des Vereins ist es, die Krankheit zu enttabuisieren und auf Sensibilisierung zu setzen. Mit Erfolg: „Ich bin immer stolz wie Oskar, wenn ich hier in Nordhorn Menschen in unseren Trikots erblicke“, so Thorsten Boomhuis. „Menschen wohlgemerkt, die von der Erkrankung gar nicht betroffen sind. Auch meine Söhne tragen in ihren Sportvereinen schon mal die Shirts von PPP – ich bin mir nicht sicher, ob ich mich das mit Anfang 20 getraut hätte.“
Mit der Mitgliederzahl des Vereins ist in den vergangenen Jahren auch die Summe der deutschlandweiten Stützpunkte, die den Sport speziell für Menschen mit Parkinson anbieten, gewachsen. Vielmehr noch: In manchen Vereinen wurde erst dank PingPongParkinson der Tischtennisabteilung wieder neues Leben eingehaucht, sodass auch nicht betroffene Spielerinnen und Spieler dort wieder den kleinen Schläger zur Hand nehmen. Die Schulungen der Trainer, für die sich eine P-Lizenz („Sport in der Prävention“) empfiehlt, werden ebenfalls vom Verein in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Tischtennis Bund sowie verschiedenen Landesverbänden organisiert. Thorsten Boomhuis nennt einen weiteren Entwicklungsschritt von PPP: „Mittlerweile spielen in vielen unserer Gruppen nicht nur Parkinson-Erkrankte, sondern etwa auch Menschen mit Demenz oder einem Suchthintergrund. Nach einem Schlaganfall – so habe ich es bei einem Kollegen selbst erlebt – kann Tischtennis ebenfalls die Beweglichkeit fördern und Wunder bewirken.“ Für die Etablierung der Disziplin als Reha-Maßnahme brauche es hierzulande allerdings noch mehr Unterstützung durch Krankenkassen und die Wissenschaft. Denn wie wertvoll der Ballsport im Falle einer neurodegenerativen Erkrankung sein kann, zeigt die Aussage, die Thorsten Boomhuis einst von der Partnerin eines Vereinsmitgliedes mit Parkinson vernahm: „Tischtennis hat mir meinen Mann wiedergebracht.“ Es lohnt sich also, trotz aller Widerstände am Ball zu bleiben.

Über den Verein
PingPongParkinson Deutschland e. V. (PPP) ist der bundesweite Zusammenschluss von kooperierenden Vereinen und Einzelpersonen, der sich – mit dem Mittel Tischtennis – überwiegend ehrenamtlich um Personen mit Parkinson und deren Angehörige kümmert. Der Mittelpunkt der Tätigkeit von PPP ist es, Betroffenen Informationen und einen gegenseitigen Austausch anzubieten. Dafür hat sich der Sport als ideal herausgestellt: Erste wissenschaftliche Studien zeigen, dass die fortschreitende Verschlechterung der Parkinson-Symptome durch Tischtennis als physikalische Therapie verlangsamt wird.