Zum Hauptinhalt
Forschung gegen frühe Verluste

Forschung gegen frühe Verluste

Kinderdemenzen sind in den meisten Fällen genetisch bedingt – es gilt, Symptome rechtzeitig zu erkennen. Foto: © Nitiphol - stock.adobe.com
Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
5 Min.Lesezeit

Der Sammelbegriff „Kinderdemenz“ vereint verschiedene neurodegenerative Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen, die äußerst selten auftreten und mit fortwährenden Beeinträchtigungen der kognitiven und geistigen Fähigkeiten einhergehen. Mittlerweile sind über 250 Krankheitsformen bekannt, basierend auf ganz unterschiedlichen genetischen Hintergründen. Für betroffene Familien stellt eine Diagnose den Alltag umgehend auf den Kopf, weshalb Aufklärungsarbeit und Forschungsförderung im Fokus stehen. Aktuelle Untersuchungen beschäftigen sich unter anderem mit der Rolle von Entzündungsprozessen bei Kinderdemenzen.   

Es sind noch junge Biografien, die vom Verlust bereits erworbener Fähigkeiten erzählen, von Hör- und Sehstörungen sowie Konzentrations- und Gedächtnisstörungen in frühen Lebensphasen. Über 250 verschiedene neurodegenerative Erkrankungen, versammelt unter dem Namen „Juvenile Neuronale Ceroid Lipofuszinose CLN3“ bzw. „Kinderdemenz“, sind bislang bekannt. Betroffen sind je nach Form zwischen 1 von 2.000 und 1 von 500.000 Neugeborene, weshalb die juvenile NCL zu den seltenen Krankheiten zählt. Tatsächlich entwickeln sich die meisten Kinder in ihren ersten Lebensjahren unauffällig und altersgemäß, etwa mit Blick auf kognitive und motorische Fertigkeiten. Je nach Erkrankungsvariante gehen diese allerdings später wieder verloren, sodass die jungen Patientinnen und Patienten mitunter pflegebedürftig und bettlägerig werden. „Normalerweise verbinden wir Demenz mit älteren Menschen“, weiß Dr. Sabina Tahirovic, Neurowissenschaftlerin am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE), Standort München. „Es gibt jedoch auch Demenzerkrankungen, die sich bereits bei Kindern bemerkbar machen und zum Tod führen, und zwar schon im Alter von 30 Jahren oder sogar früher, wie etwa Niemann-Pick Typ C.“ Laut DZNE sind in Deutschland schätzungsweise etwa 150 Menschen von diesem seltenen Subtyp betroffen; sie weisen Mutationen in einem von zwei spezifischen Genen auf, die den Fettstoffwechsel regulieren. Aufgrund einer schädlichen Anhäufung von Fettstoffen (sogenannte Lipide) im Gehirn und in anderen Organen können Bewegungsstörungen sowie schwere psychiatrische und neurologische Symptome auftreten – einschließlich Demenz.

Um welche Form der Erkrankung es sich auch handelt – die Diagnose „Kinderdemenz“ verändert das Leben betroffener Familien von einem Tag auf den anderen. Erste Anzeichen machen sich häufig im Einschulungsalter bemerkbar, meist im Zuge einer Sehschwäche, die nach ein bis drei Jahren zu einer Erblindung der erkrankten Kinder führt. Rund um das achte Lebensjahr beginnt der geistige Abbau, etwa beim Rechnen und Schreiben. Im Alter von elf Jahren fallen erste Sprachschwierigkeiten auf, was meist zwei Jahre später zu einem gänzlichen Verlust der Fähigkeit zu sprechen führt. Aufgrund von Einschränkungen der Beweglichkeit sind die jungen Patientinnen und Patienten im Verlauf der Krankheit zudem auf einen Rollstuhl angewiesen. Bis Eltern nach den ersten auftretenden Symptomen Gewissheit haben, müssen sie und ihr Kind nicht selten eine kräftezehrende Ärzteodyssee auf sich nehmen: „Oft vergehen Jahre bis NPC diagnostiziert wird und es sind zahlreiche Arztbesuche nötig“, erläutert Sabina Tahirovic. „Die maßgeblichen Mutationen sind leicht nachzuweisen, aber oft wird NPC anfangs nicht in Betracht gezogen, weil die Erkrankung so selten ist.“ Bestimmte Medikamente, die auf den Fettstoffwechsel wirken, könnten die Symptome wohl lindern. Bisher gebe es jedoch keine Therapien, die die Krankheit dauerhaft aufhalten würden. „Wir kennen zwar die genetischen Ursachen von NPC, aber die Mechanismen der Krankheitsentwicklung sind noch wenig verstanden“, so Tahirovic weiter.  

Krankheitsverläufe verstehen

Die Ursache für die Juvenile Neuronale Ceroid Lipofuszinose CLN3 liegt in einer Genmutation auf Chromosom 16 – die Stoffwechselerkrankung wird rezessiv vererbt. In der Folge fehlen dem Gehirn wichtige Substanzen oder es lagern sich Schadstoffe ab, was zum frühen Absterben von Nervenzellen führt. „Unsere Befunde unterstreichen, dass Neuroinflammation ein entscheidender Faktor ist“, gewährt Sabina Tahirovic einen Einblick. „Hier geht es um Entzündungsprozesse, die vom Immunsystem des Gehirns vermittelt werden. Außerdem haben wir mit TSPO einen potenziellen Biomarker für die Verlaufskontrolle und die Wirkung von Behandlungsmaßnahmen identifiziert“, berichtet die Neurowissenschaftlerin weiter. Solche Messgrößen seien dringen notwendig, um neue Therapeutika entwickeln und Krankheitsverläufe verstehen zu können.

Ausgehend von den Ergebnissen früherer Studien widmeten sich Tahirovic und ihre Kolleginnen und Kollegen auch den sogenannten Mikroglia: Dabei handelt es sich um Zellen, die zum Immunsystem des Gehirns gehören und somit auf die Bekämpfung von Krankheitserregern und anderen Bedrohungen spezialisiert sind. Bei NPC scheinen sie allerdings mehr zu schaden als zu nützen. Sabina Tahirovic: „Wir konnten zeigen, dass die Mikroglia aktiv zur NPC-Pathologie beitragen, indem sie im Gehirn eine schädliche neuroinflammatorische Reaktion auslösen. Wir sehen diese Immunzellen als Teil einer pathologischen Kaskade, an der auch andere Gehirnzellen beteiligt sind und die letztlich Nervenzellen beschädigt.“ Aktuelle Behandlungsmethoden für NPC würden darauf abzielen, die Menge an Lipiden in den Zellen zu reduzieren, da diese Anhäufung pathologisch ist. Die Ergebnisse des DZNE unterstreichen laut der Expertin nun die Bedeutung von Entzündungen bei NPC: „Die Kombination von lipidsenkenden Strategien mit Immunmodulation ist aus meiner Sicht ein vielversprechender Ansatz für künftige Therapien.“

Fehldiagnosen reduzieren

Da die verschiedenen Formen der Kinderdemenz kaum bekannt sind und somit auch nicht im Fokus der Öffentlichkeit stehen, ist es umso wichtiger, ein Bewusstsein für das seltene Krankheitsbild zu schaffen. Die NCL-Stiftung mit Sitz in Hamburg setzt sich aus diesem Grunde für eine Zukunft ohne Kinderdemenz ein, leistet Aufklärungsarbeit und investiert in die Erforschung der tödlichen Erkrankung. Ins Leben gerufen wurde die gemeinnützige Stiftung bereits im Jahr 2002 von Dr. Frank Husemann, nachdem bei seinem Sohn Tim mit sechs Jahren die unheilbare Kinderdemenz Neuronale Ceroid Lipofuszinose (NCL) diagnostiziert wurde. Neben der gesellschaftlichen Verankerung der Thematik durch Zeitungsberichte, Social Media und Plakatkampagnen sollen auch verstärkt Medizinerinnen und Mediziner umfassend zu NCL informiert werden, um auf diese Weise Fehldiagnosen und quälende Wartezeiten für die Kinder und Familien zu reduzieren. Hierzu bietet die NCL-Stiftung Online-Fortbildungen, Vorträge und Merkblätter an. Auch wurden seit der Gründung mehr als 60 Forschungskooperationen auf den Weg gebracht, um Ursachen besser verstehen, neue Therapien entwickeln und den Familien in der schwierigen Zeit nach der Diagnose einen Halt geben zu können.  

Die aktuellen Forschungsarbeiten zeigen, welch großes Potenzial frühzeitige Diagnosen besitzen. Das gilt vor allem für all jene Kinderdemenzen, bei denen sich der neurodegenerative Verlauf durch die Gabe fehlender Substanzen verlangsamen oder gar stoppen lässt. Auch wenn die neuen Aufgaben nach einer Diagnose für Familien im ersten Moment unbezwingbar erscheinen mögen, versichern die Expertinnen und Experten der NCL-Stiftung betroffenen Eltern, dass sie mehr für ihr Kind tun können als zunächst gedacht: „In kleinen Schritten und mit dem gezielten Betrachten einzelner Symptome können Sie Ihrem Kind sehr viel Lebensqualität schenken.“

dzne.de

 


Über die NCL-Stiftung

Seit ihrer Gründung im Jahr 2002 setzt sich die NCL-Stiftung für eine Zukunft ohne Kinderdemenz ein. Mittlerweile ist die Stiftung der größte Einzelförderer von Doktorandenstipendien auf dem NCL-Gebiet und vernetzt in dieser Rolle die NCL-Forschung weltweit. Die außerordentliche Leistung und das Engagement von Initiator Dr. Frank Husemann wurde bereits mit dem Bundesverdienstkreuz gewürdigt. Für betroffene Familien stellt die Stiftung verschiedene Ratgeber und Informationsangebote zur Verfügung; spezielle Merkblätter für Kinder-, Augen- und Schulärzte stehen auf der Onlinepräsenz der Stiftung zum Download bereit.  

ncl-stiftung.de


 

„Wir alle möchten alt werden – aber nur ungern darüber sprechen“
Pflegende Angehörige

„Wir alle möchten alt werden – aber nur ungern darüber sprechen“

In ihrem Buch „Meine Eltern werden alt“ liefert die Journalistin Peggy Elfmann „50 Ideen für ein gutes Miteinander“ sowie wertvolle Anregungen, die sich am Alltag mit alternden Eltern orientieren.

Mehr erfahren
Kommunikative Teilhabe als oberstes Ziel
Logopädie bei Demenz

Kommunikative Teilhabe als oberstes Ziel

Logopädische Angebote können einen positiven Einfluss auf die Kommunikations- und auch Ernährungssituation von an Demenz erkrankten Menschen haben.

Mehr erfahren
Ausgabe: 03/2025

Titelthema – Demenz und Parkinson: Mitten im Leben