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Zwischen Fürsorge und Entkräftung

Zwischen Fürsorge und Entkräftung

Pixel-Shot // AdobeStock.com
Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
5 Min.Lesezeit

Ob Hilfe bei Körperpflege und Ernährung, die Begleitung zu Arztterminen oder emotionaler Beistand: Angehörige, die eine nahestehende Person versorgen, sind eine tragende Säule des deutschen Pflegesystems. Nicht wenige von ihnen haben jedoch im Laufe ihrer Tätigkeit mit körperlichen Beschwerden und auch psychischen Belastungen zu kämpfen; eigene Bedürfnisse geraten häufig in den Hintergrund. Der Verein wir pflegen e.V. setzt sich für die Belange dieser Menschen ein, bietet digitale Veranstaltungen zum Austausch der Betroffenen an und macht ihre Situation sichtbar.    

Wer in häuslicher Umgebung die Pflege eines Angehörigen übernimmt, kann dies als bereichernd und Stärkung der familiären Bindung wahrnehmen – so die Idealvorstellung. In der Realität ist diese Aufgabe jedoch häufig mit gleich mehreren Belastungen verbunden. Neben körperlichen Beschwerden wie Gelenk- und Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf-Problemen, Erschöpfungserscheinungen und Infekten spielen oftmals auch Beeinträchtigungen auf psychischer Ebene eine Rolle: Ängste, Trauer, Verzweiflung oder Schuldgefühle bilden emotionale Ausnahmesituationen ab, die letztlich auch die Beziehung zur pflegebedürftigen Person verändern können. Aufgrund dieser gesundheitlichen Risiken und Einschnitte im Leben macht sich der Verein wir pflegen e.V. für die Unterstützung dieses Personenkreises stark. Die Interessenvertretung mit Hauptsitz in Berlin setzt sich dafür ein, dass Betroffene eine bessere Absicherung und mehr Wertschätzung erfahren – dabei pocht sie auf die Vereinbarkeit von Pflege, Familie, Beruf und sozialer Teilhabe. 

„Wer zum Beispiel einen bettlägerigen Menschen versorgt, ihn regelmäßig heben und umlagern muss, ist einer großen körperlichen Anstrengung ausgesetzt“, so Lisa Thelen, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei wir pflegen. „Nicht wenige klagen auch über Schlafstörungen, etwa dann, wenn sie eine demente Person betreuen, die nachts oft aufwacht und den Tag-Nacht-Rhythmus verloren hat.“ Bohrende Fragen wie Reicht meine Hilfe aus? oder Müsste ich noch mehr tun? könnten zudem ein schlechtes Gewissen begünstigen und dafür sorgen, dass Angehörige die eigenen Bedürfnisse mehr und mehr vernachlässigen. „Manchmal ist dem Umfeld gar nicht klar, was es bedeutet, sich rund um die Uhr um einen nahestehenden Menschen zu kümmern“, weiß Lisa Thelen. „Dann können sich auch Gefühle wie Hilflosigkeit oder Einsamkeit einstellen.“ Vor dem Hintergrund all dieser Erschwernisse sind die folgenden Zahlen des Statistischen Bundesamts als klares Warnsignal zu verstehen: Von den circa 5,7 Millionen Menschen, die im Dezember 2023 in Deutschland pflegebedürftig waren, wurden 4,9 Millionen zu Hause versorgt, überwiegend von Angehörigen. Hinzu kommt: Rund 53 Prozent der Menschen, die hierzulande regelmäßig Pflegeaufgaben übernehmen, sind berufstätig – jeder fünfte von ihnen ist armutsgefährdet.

Ist die Pflege weiblich?

Ein weiterer Wert deckt auf, dass bei der Betreuung durch Angehörige ein offenkundiges Ungleichgewicht herrscht: Rund drei Viertel der Pflegenden sind weiblich. Der Verein wir pflegen macht hier unter anderem tradierte Muster und Erwartungen aus, die über das Pflegesystem zusätzlich verstärkt werden: „Wenn Frauen die Versorgung eines Familienmitglieds übernehmen, haben sie zuvor vielleicht schon aufgrund der Kindererziehung in Teilzeit gearbeitet“, bemerkt Lisa Thelen. „Oftmals ist es zwischen Partnern dann auch eine pragmatische Entscheidung – auf wessen Gehalt können wir für eine Weile verzichten? Überholte Rollenbilder à la Frauen können Fürsorge besser als Männer befeuern diese Situation zusätzlich. Da muss man dann tatsächlich feststellen, dass die Pflege in unserem Land immer noch weiblich ist.“ Wird die berufliche Tätigkeit je nach Pflegesituation also reduziert oder gänzlich aufgegeben, kann dies für Frauen – zusätzlich zur ohnehin hohen Belastung – weitere Auswirkungen haben: Neben finanziellen Verlusten gestaltet sich möglicherweise auch der spätere Wiedereinstieg in den Job schwierig. Lisa Thelen: „Pflegen Eltern beispielsweise ein Kind mit Behinderung oder chronischer Erkrankung, dauert diese Aufgabe ein Leben lang an. Wenn Mütter also über Jahrzehnte aus ihrem Beruf aussteigen, besitzen sie kaum noch Chancen, wieder ins Erwerbsleben zurückzukehren. Wir fordern deshalb ein Einkommen für pflegende Eltern und Angehörige, die aufgrund der Pflegesituation und fehlender Entlastungsmöglichkeiten nicht erwerbstätig sein können.“

Dem Leitsatz „Nur wer sich selbst pflegt, kann auch andere pflegen“ stehen somit An- und Zugehörige gegenüber, die mit körperlichen, mentalen und finanziellen Konsequenzen zu kämpfen haben. Wie steht es da um Entlastungsmöglichkeiten oder die Option, eine Auszeit zu nehmen? Die Kosten für Aufenthalte in Hotels, die in Deutschland speziell Urlaube für Pflegebedürftige mit oder ohne ihre Betreuenden anbieten, werden von den Kassen für den Pflegedienst in Höhe der entsprechenden Sachleistungen und je nach Pflegegrad gezahlt. Möchten sich versorgende Familienmitglieder erholen oder sind sie für einen bestimmten Zeitraum verhindert, haben sie die Möglichkeit, Kurzzeit- oder Verhinderungspflege zu beantragen. Hier besteht ein Anspruch ab Pflegegrad zwei; zudem muss der Antrag vorab bei der Pflegekasse des Angehörigen gestellt werden. Die Kosten werden in diesem Fall aus dem sogenannten „Gemeinsamen Jahresbetrag“ von 3.539 Euro bezahlt – verteilt auf maximal acht Wochen. Als Interessenvertretung und Selbsthilfeorganisation bringt der Verein wir pflegen Angehörige zusammen, die sich gegenseitig unterstützen und wertvolles Erfahrungswissen austauschen. Dazu zählt auch der Ausbau von Selbsthilfeinitiativen, einschließlich der App in.kontakt, um landesweit, vor Ort und digital Kompetenzen zu bündeln.   

Gemeinsam Lösungen finden

Neben einer bedarfsgerechten Weiterentwicklung der Kurzzeitpflege und Förderung zielgerichteter Entlastungen ist es eine Handlungsempfehlung des Vereins, Pflegende stärker an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Schließlich wissen diese am besten, wo Probleme bestehen, Ressourcen benötigt werden und Weiterentwicklungen erforderlich sind. Lisa Thelen hierzu: „Da unsere Mitglieder größtenteils selbst pflegende Angehörige sind, können wir hier wertvolle Erfahrungen zusammentragen. Nur wenn die Politik mit den Betroffenen in den Dialog tritt und ihnen zuhört, lässt sich auch etwas ändern. Es geht darum, nicht über diese Menschen zu sprechen, sondern mit ihnen, um auf diesem Wege gemeinsam Lösungen zu finden.“ Hier könnte laut Thelen die Aufnahme einer Interessenvertretung pflegender Angehöriger mit Stimmrecht in die Landespflegeausschüsse der Länder hilfreich sein; mit der Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung und den für Pflege zuständigen Fachabteilungen steht der Verein schon im regelmäßigen Austausch: „Es ist jederzeit möglich, mit wir pflegen in Kontakt zu treten. Darüber hinaus starten wir immer wieder Umfragen zu verschiedenen Schwerpunkten und sammeln die Beobachtungen der jeweiligen Akteure – aus den Erfahrungen der Betroffenen und Selbsthilfearbeit entstehen auch unsere Positionspapiere.“

Die Unterstützungs- und Aufklärungsarbeit des Vereins hat ebenso zum Ziel, Vorurteilen und Klischees entgegenzutreten, denn Pflege kennt kein Alter und hat viele Gesichter: Für die Versorgung eines nahestehenden Menschen können gleichermaßen Eltern, Kinder, Partner, Bekannte, Freunde und Nachbarn verantwortlich sein. Eingefahrene Vorstellungen – etwa, dass Pflege hauptsächlich Senioren betrifft – gilt es darüber hinaus zu durchbrechen. Das zeigt beispielsweise die Zahl sogenannter Young Carers, also Minderjährige mit Pflegeverantwortung, die in Deutschland kontinuierlich ansteigt. „Wenn Kinder oder Jugendliche ihre Eltern pflegen, übernehmen sie Aufgaben, die weit über das hinausgehen, was andere in ihrem Alter an Verantwortung gewohnt sind“, gibt Lisa Thelen zu Bedenken. „Da schwingt auch oft die Sorge mit, dass das familiäre Gefüge durch ein Einschreiten von Behörden auseinandergerissen werden könnte.“ Es brauche daher eine Sensibilisierung des sozialen Umfelds, bessere Entlastungsangebote für die Familien sowie Möglichkeiten des Austauschs und der Erholung – und das schließe sämtliche Altersgruppen, Verwandtschaftsverhältnisse und Pflegekonstellationen mit ein. Denn klar ist: Wer Verantwortung für einen geliebten Menschen übernimmt, darf dabei das eigene Wohlergehen nicht ausblenden. 

wir-pflegen.net

 


Pflegezeit und Rente

Die Pflegeversicherung zahlt pflegenden Angehörigen unter bestimmten Voraussetzungen Beiträge zur Rentenversicherung. Viele nicht erwerbsmäßig tätige Pflegepersonen sind auf diese Weise durch die gesetzliche Rentenversicherung geschützt. Dabei müssen eine oder mehrere pflegebedürftige Personen mit Pflegegrad 2 oder höher versorgt werden; die Pflege muss zudem mindestens zehn Stunden, verteilt auf wenigstens zwei Tage pro Woche, erfolgen. Eine weitere Voraussetzung: Pflegende Angehörige dürfen zusätzlich nebenbei nicht mehr als 30 Stunden arbeiten. Sie können sich die Pflege auch mit einer anderen Person teilen. Dabei muss jedoch der Mindestpflegeaufwand von zehn Stunden pro Woche je Person erreicht werden. Außerdem muss die Pflege in häuslicher Umgebung erfolgen. Die Deutsche Rentenversicherung zählt die Pflegezeit als Beitragszeit und rechnet diese für die sogenannte Wartezeit an. Dabei handelt es sich um die Mindestversicherungszeit für Leistungen aus der Rentenversicherung.


Quelle: Deutsche Rentenversicherung

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Titelthema – Pflege