
Zur Vermeidung oder Verkürzung von Klinikaufenthalten bietet die Ambulante Psychiatrische Pflege (APP) Menschen mit entsprechenden Erkrankungen eine einfühlsame Unterstützung in ihrem gewohnten häuslichen Umfeld. Der aufsuchende Dienst, der in der Regel bis zu vier Monate verordnet werden kann, wird von fachlich qualifizierten Pflegekräften geleistet, um Fähigkeiten und Ressourcen der Betroffenen zu fördern und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu stärken. Matthias Witt (Foto rechts) ist Fachkrankenpfleger für Psychiatrie und Pflegedienstleiter APP des AWO Fachkrankenhauses Jerichow (Sachsen-Anhalt): Im Interview berichtet er von angstbesetzten Alltagssituationen der Klienten, wertvollen Bezugspersonen und allmählichem Vertrauensgewinn.
Ambulante Psychiatrische Pflege kann bei bestimmten psychischen Beeinträchtigungen ärztlich verordnet werden: An welche Zielgruppen richtet sich das Angebot?
Matthias Witt: Verordnungsfähig sind sämtliche Diagnosen, die auf der Liste der psychischen und Verhaltensstörungen nach ICD-10 aufgeführt sind. Dazu zählen beispielsweise Depressionen, Schizophrenie, manische Episoden, generalisierte Angststörungen oder posttraumatische Belastungsstörungen. Auch Demenzerkrankungen sind hier zu nennen. Der Gesetzgeber unterscheidet dabei zwischen einer Regelversorgung und Einzelfällen – bei Letzteren spielen auch die Schwere und Ausprägung der Beeinträchtigung eine Rolle. Grundsätzlich sind aber sämtliche Diagnosen aus dem psychiatrischen Kontext verordnungsfähig. Hintergrund dieser ambulanten Pflege ist, Krankenhausaufenthalte idealerweise zu vermeiden oder zu verkürzen. Das ist unser übergeordnetes Ziel: Menschen mit einer akuten oder chronischen psychischen Erkrankung in ihrer Häuslichkeit zu stabilisieren.
Wie wichtig ist für die Betroffenen die Förderung eines eigenständigen Lebens im gewohnten Umfeld?
Ich bin zehn Jahre auf der Akutstation einer psychiatrischen Einrichtung tätig gewesen und habe Patienten gesehen, die immer wieder in die Klinik aufgenommen werden mussten, da sich ihr Zustand draußen – also im häuslichen Umfeld – wiederholt zugespitzt hat. Mit dem Start der Ambulanten Psychiatrischen Pflege hier in Jerichow konnten dann bei sehr vielen dieser Patienten die Klinikeinweisungen drastisch reduziert werden. Mittels Einbezugs des jeweiligen Umfelds besitzen die Pflegenden meist die Möglichkeit, fachlich viel zielgerichteter zu behandeln. Bei einer Angststörung etwa lässt sich im realen Lebensumfeld viel besser mit der entsprechenden Angst arbeiten als in einer geschützten Einrichtung. Nichtsdestotrotz wird es immer Personen geben, die klinisch behandelt werden müssen – auch wir vom APP vermitteln dahingehend Patienten.
Sie haben Leiden wie Depressionen oder Angststörungen angesprochen. Psychische Erkrankungen also, die durchaus die Beziehungsfähigkeit Betroffener einschränken und für einen Rückzug sorgen können …
Die Menschen sind in ihrer Wohnung für sich selbst verantwortlich und treffen eigene Entscheidungen. Wir können nur Empfehlungen geben. Als Pflegende möchten wir einen guten Draht zu der jeweiligen Person bekommen und schrittweise eine Beziehung aufbauen. Das kann über Spaziergänge im Park oder Treffen im Café stattfinden. Vielleicht gelangen Medikamente anfangs auch nur über die Fensterbank zum Betroffenen, bis er uns dann eines Tages auch die Tür öffnet. Da wir formal sämtliche Diagnosegruppen und Altersklassen behandeln, äußern sich diese Kontakte ganz unterschiedlich. Das ist die Kunst: Auch bei einem sozialen Rückzug eine tragfähige Beziehung aufzubauen.
Welche Hilfen werden da im häuslichen Umfeld angeboten, um die Pflegebedürftigen in Krisen oder angstbesetzten Alltagssituationen zu stärken?
Das beginnt in der Regel mit der Anamnese: Da gilt es den Menschen kennenzulernen und zu verstehen, wie er sein bisheriges Leben mit seiner Einschränkung organisiert hat. Dazu gehört auch eine große Portion Wertschätzung, indem man die betroffene Person bestärkt und ihr signalisiert, dass sie ihren Weg bislang gut gemeistert hat. Über diese ersten Kontakte lässt sich schon eine gewisse Vertrauensbasis herstellen. Im Anschluss geht es darum, Schritt für Schritt ein Krankheitsverständnis herzustellen: Da ist beispielsweise ein Patient mit Wahrnehmungsstörungen, der an Verfolgungswahn leidet oder Stimmen hört. Lässt er eine gemeinsame Realitätsüberprüfung zu, besteht die Möglichkeit, gezielte Behandlungsmechanismen zu entwickeln, etwa in Form einer Medikation.
Behandlungsabbrüche sind bei psychischen Erkrankungen seitens der Patienten nicht selten: Inwiefern kann die ambulante Pflege hier vorbeugend wirken?
Natürlich ist es für die Menschen, die unsere Pflege in Anspruch nehmen, einfacher, wenn sie das Haus nicht verlassen müssen. Dennoch erleben auch wir es immer wieder mal, dass Patienten einen Termin absagen oder uns schlichtweg die Türe nicht öffnen. Vielleicht können sie sich in diesem Augenblick nicht mit ihrer Angst auseinandersetzen oder die Erkrankung wiegt gegenwärtig einfach zu schwer. Das müssen wir jederzeit mit einkalkulieren und uns gleichzeitig fragen, wie damit umzugehen ist: Hat der Patient in der Vergangenheit Suizidgedanken geäußert, muss der Mitarbeiter einschätzen können, ob er den Rettungsdienst alarmiert und die Wohnung öffnen lässt. Das kommt durchaus vor. Idealerweise hat man bereits im Aufnahmegespräch Verwandte oder Nachbarn ausgemacht, die in solchen Notsituationen zu kontaktieren sind.
Womit wir beim Umfeld wären: Dieses nimmt bei der APP eine wichtige Rolle ein. Wie kann hier idealerweise eine Einbindung – aber auch Entlastung – gelingen?
Wir agieren jederzeit netzwerkorientiert und versuchen, Angehörige und weitere Personen aus der Lebenswelt der Patienten mit einzubeziehen. Das kann auch schon mal die Kassiererin im Supermarkt sein, die als einzige Bezugsperson fungiert. Oftmals freuen sich diese Menschen über unsere professionellen Ratschläge, Empfehlungen und Prognosen, entwickelt sich dadurch doch auch für sie ein klareres Bild der Krankheit. Verbessert sich der Zustand der pflegebedürftigen Person durch unsere Betreuung, verspüren in der Regel auch An- und Zugehörige eine Entlastung. Es profitieren also beide Seiten.
Wie gelingt den Pflegenden dieser respektvolle Umgang zwischen Nähe und Distanz?
Diese Fähigkeit, so denke ich, lässt sich nicht erlernen, die bringt man idealerweise mit. Zum einen begegnen der Pflegekraft innerhalb eines Tages ganz unterschiedliche Krankheitsbilder – da startet der Tag mit einem depressiven Patienten, es folgt ein Mensch mit Schizophrenie und am Nachmittag eine Person mit Persönlichkeitsstörung. Die Fachkraft muss aber nicht nur zwischen den konträren Symptomen hin- und herwechseln, sondern sich auch auf verschiedene Altersgruppen, Persönlichkeiten und Netzwerke einstellen. Es ist eine ziemliche Herausforderung und Gratwanderung, neben all dieser erforderlichen Professionalität dann noch einen Draht zum Klienten herzustellen.
Eine wichtige Aufgabe ist zudem das Erkennen und Benennen von kritischen Situationen und Warnsignalen, auch mit Blick auf Selbsttötungsabsichten …
Neben dem hohen Maß an Verantwortung und Aufmerksamkeit braucht es da auch ein Wissen rund um rechtliche Grundlagen: Ab wann ist ein Betreuer hinzuzuziehen? Sind die Voraussetzungen für eine Zwangseinweisung gegeben? Die psychiatrische Pflegekraft muss demnach juristisch aufgeklärt sein, über Fachwissen verfügen und die Situation letztlich menschlich auch aushalten können. Ein offensichtliches Warnsignal ist das Vernachlässigen der Selbstfürsorge, also in den Bereichen Ernährung, Medikamenteneinnahme oder Hygiene. Folgendes Beispiel: Eine Patientin mit bipolarer Störung schminkt sich in manischen Phasen möglicherweise ausgiebig und wechselt häufig die Kleidung. Lässt all dies merkbar nach, ist das ein Hinweis darauf, dass als nächstes wieder die Depression eintritt. Im Rahmen der Ambulanten Psychiatrischen Pflege versuchen wir, darauf einzuwirken oder herauszufinden, ob auch bestimmte Stressfaktoren das Verhalten beeinflussen.
Hat die gesellschaftliche Akzeptanz für psychische Erkrankungen Ihrer Meinung nach zugenommen?
Ich bin seit über 20 Jahren in diesem Berufsfeld tätig und würde behaupten, dass sich die Akzeptanz deutlich verbessert hat. Gleichzeitig befürchte ich aber auch ein wenig, dass die Thematik in eine ungewollte Richtung kippt und die gesundheitliche Versorgung erschwert: Für Probleme, die früher vielleicht innerhalb der Familie gelöst werden konnten, wenden sich Menschen heute vermehrt an den Psychotherapeuten. Die Kassenzulassungen sind diesbezüglich in den letzten Jahrzehnten nahezu explodiert – doch immer noch fehlt es an Therapieplätzen. Insgesamt ist es aber als positiv zu bewerten, dass noch nie so viel über psychische Erkrankungen gesprochen wurde, wie es heute der Fall ist. Denn das trägt zum Abbau von Stigmatisierungen und Diskriminierungen bei.
BAPP e.V.: Bundesinitiative Ambulante Psychiatrische Pflege
Ziel der BAPP e.V. ist die Stärkung der Ambulanten Psychiatrischen Pflege und des Rechts psychisch erkrankter Menschen auf eine kompetente, umfassende und patientenorientierte Pflege. Die wichtigste Aufgabe der psychiatrischen Pflege ist laut des Vereins die Behandlung, Begleitung und Beratung der Patientinnen und Patienten. Im Mittelpunkt steht dabei der gelungene professionelle Kontakt. Der Mensch wird ganzheitlich und unter Berücksichtigung seiner individuellen physischen, psychischen, sozialen, kulturellen und geistigen Bedürfnisse wahrgenommen. Die Würde und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten sind zu respektieren.


