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Profil einer schlafenden Frau in dunklem Traumnebel

Wenn die Kraft fürs Alltägliche fehlt

Das Leben mit einem Chronischen Fatigue Syndrom ist gekennzeichnet durch lange Phasen der Erschöpfung – Momente der Ruhe bringen kaum Besserung. Foto: © agsandrew - stock.adobe.com
Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
7 Min.Lesezeit

Manch Betroffene ereilt die Erkrankung schlagartig, andere wiederum berichten von einem schleichenden Beginn: Eine Myalgische Enzephalomyelitis, synonym Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS), auch bekannt als Chronisches Erschöpfungssyndrom, sorgt dafür, dass Leistungsfähigkeit und Lebensqualität rapide abnehmen. Kennzeichnend ist eine erhebliche Belastungsintoleranz. Schon geringe körperliche oder geistige Anstrengungen können zu einer Symptomverschlimmerung führen – Ruhephasen bringen kaum Besserung. Der Verein Fatigatio e.V. setzt sich für die ca. 250.000 Patientinnen und Patienten, darunter 40.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland (1) ein und möchte Ärzteschaft und Forschung gleichermaßen für die Erkrankung sensibilisieren.

Vordergründig ist die schwere neuroimmunologische Erkrankung durch eine chronische Erschöpfung gekennzeichnet. Hinzu kommen ein schweres Krankheitsgefühl mit zahlreichen weiteren Symptomen wie dauerhaften Konzentrationsschwierigkeiten, starken Kopfschmerzen, Kreislaufdysregulation, Schlafstörungen, Muskel- und Gelenkschmerzen sowie Infektsymptomatik mit Halsschmerzen und Lymphknotenschwellungen. Alle Symptome verstärken sich bereits nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung, oft erst nach einem Intervall von 24 bis 48 Stunden. Besonders tückisch: Phasen der Schonung oder Ruhe bringen kaum eine nachhaltige Besserung. Da überrascht es nicht, dass von der Erkrankung sämtliche Lebensbereiche betroffen sind. Das Ausüben einer geregelten Arbeit ist in vielen Fällen nicht möglich; einige Patientinnen und Patienten sind gar auf umfassende Pflege angewiesen. Neben all diesen Substanzverlusten haben Betroffene aber noch zusätzliche „Kämpfe“ auszufechten: Zwar wird ME/CFS seit Jahren von der WHO als neurologische Erkrankung eingeordnet, für Maßnahmen der sozialen Absicherung (Pflegegrad, GdB, Rente) müssen sich die Betroffenen jedoch häufig einer Begutachtung durch Psychiater oder Psychologen unterziehen, die dann ungeeignete Aktivierungstherapien verordnen und den somatischen Aspekt der Erkrankung negieren. Der Hintergrund von ME/CFS ist bislang noch nicht ausreichend verstanden, allerdings benennen ca. 80% der Erkrankten eine heftige Virusinfektion als Auslöser. Leider ist hierzulande oftmals noch vom Chronischen Erschöpfungs- oder auch Müdigkeitssyndrom die Rede, Bezeichnungen, die laut Experten und vor allem auch Betroffener die Erkrankung verharmlosen. Auch der Vergleich mit dem Burnout-Syndrom oder einer Depression führt in die falsche Richtung.

Aktuelle Forschung: ME/CFS ist eine Autoimmunerkrankung mit komplexem Geschehen

In den letzten Jahren konnten einige Forschungsarbeiten im Bereich der Grundlagenforschung Licht ins Dunkel des von den Patienten so deutlich berichteten Energiemangels bringen. So gelang einer Arbeitsgruppe unter Leitung des renommierten Biochemikers Prof. Ron Davis aus Stanford der Nachweis des Energiemangels auf zellulärer Ebene an Blutzellen Erkrankter (1). Eine Arbeitsgruppe um den Molekularbiologen Bhupesh Prusty aus Würzburg konnte die Übertragbarkeit von Störungen der mitochondrialen Morphologie durch Serum Erkrankter nachweisen (2). Frau Prof. Carmen Scheibenbogen von der Immundefektambulanz der Charité publiziert regelmäßig zum Krankheitsbild, zuletzt eine Übersicht über die Mechanismen, die zu Kreislaufdysregulation und Schmerz bei ME/CFS führen (3), sowie die Belege, dass es sich um ein Autoimmungeschehen handelt (4). Aktuell fallen im Rahmen der SARS-CoV-2-Pandemie zunehmend Patienten auf, die die Konsenskriterien für ME/CFS erfüllen, insbesondere initial eher nicht so schwer betroffene Erkrankte5. Die Vermutung liegt nahe, dass auch das neue Corona-Virus das Krankheitsbild auslösen kann.

Es fehlt an anerkannten Therapien

Der Diagnoseprozess für das komplexe Krankheitsbild ME/CFS ist langwierig, da durch Ausschluss anderer, das Symptom Fatigue auslösender Erkrankungen, die Verwendung bestimmter diagnostischer Kriterienlisten und gleichzeitiges Hinzuziehen ausgewählter immunologischer Diagnostik die Diagnose gestellt werden kann. Die „Kanadischen Konsenskriterien“ und die „Internationalen Konsenskriterien“ gelten als die zwei am häufigsten verwendeten. Das zentrale Symptom, das auch eine Abgrenzung z. B. zu der Depression erlaubt, ist die Belastungsintoleranz. Ein einzelner Biomarker im Blut fehlt bisher, doch dieses ist auch bei anderen chronischen Erkrankungen der Fall.

Wurde ein Chronisches Fatigue Syndrom diagnostiziert, stellt sich die Frage nach der entsprechenden Behandlung. Ein einfaches Behandlungskonzept liegt bisher nicht vor – es fehlt an anerkannten Therapien mit nachgewiesener Wirksamkeit. Kürzlich bewilligte Forschungsgelder und weitere BMBF-Anträge könnten diesen Zustand ändern. Einzelne immunologische Therapieverfahren zeigten einen positiven Effekt in Studien; diese sind jedoch noch nicht im klinischen Alltag angekommen. Wie bei vielen Autoimmunerkrankungen lautet das Hauptziel daher, die (vielen unterschiedlichen) Symptome der betroffenen Person zu lindern. Im Zuge einer medikamentösen Behandlung sind das mitunter Schmerzmittel; Antibiotika und Virustatika kommen bei einer chronischen Infektion zum Einsatz. Auch Nahrungsergänzungsmittel (bei Mangel an Vitaminen oder Mineralstoffen) und Antidepressiva (bei Auftreten einer reaktiven Depression) können sinnvoll sein. Das Einhalten eines geregelten Tagesablaufs sowie Entspannungsmaßnahmen und Pacing (Aktivität unter Einhaltung der individuellen Belastungsgrenze) sollen den Alltag zudem positiv beeinflussen – immer unter der Voraussetzung, dass die individuellen Beeinträchtigungen es zulassen.

„Ein normaler Familienalltag ist nicht möglich“

Für eine bessere Informationslage bezüglich des komplexen Krankheitsbildes in der Gesellschaft sowie die Interessen Betroffener setzt sich der in Berlin ansässige Fatigatio e.V. Bundesverband ME/CFS ein. Birgit Gustke, selbst seit über 12 Jahren von der Krankheit betroffen, bekleidete bis 2020 das Amt der Vorsitzenden der Patientenorganisation. Sie gewährt einen Einblick in ihre Lebenswelt: „Im Anfangsstadium war ich zu nichts anderem fähig, als über Wochen bewegungslos im licht- und geräuschgeschützten Raum zu liegen, unfähig mich alleine umzudrehen oder alleine zu trinken, nicht wissend, was mit mir los ist. Auch Monate und Jahre später, als ich mit langen Ruhephasen, Pacing und Virustatika den Schweregrad bessern konnte, ist an soziale Teilhabe und normale Freizeitaktivitäten mit Familie oder Freunden immer noch nicht zu denken. Bereits Gespräche mit mehr als zwei Personen können – vor allem bei hoher Sprechgeschwindigkeit – zu einer Verschlechterung führen. Ein- bis zweimal im Jahr führt ein nicht bedachter Trigger, ein fünf Minuten längerer Spaziergang etwa, unerwartet in eine bis zu fünfmonatige schwere Pflegebedürftigkeit, in der ich das Bett nicht verlassen kann und selbst das Sprechen und Kauen zu einer Verschlechterung führt. Hobbys, Sport-, Kino-, Konzert- oder Restaurantbesuche, Fernsehen, lange Autofahrten oder der Weg zur nächsten Bushaltestelle sind selten möglich. Der Einkauf und die Haushaltspflege sind stark eingeschränkt. Ein normaler Familienalltag ist nicht zu realisieren, da die Kraft für Kindergeburtstage, Spieleabende oder Schwimmbadbesuche fehlt.“

Persönliche Belastungsgrenzen nicht überschreiten

Eine ebenfalls schwer an ME/CFS erkrankte Ärztin und Mitglied im Fatigatio e.V. unterstreicht: „Wichtig für die Patientinnen und Patienten ist es, ein Gleichgewicht zu finden. Einerseits dürfen sie ihr Aktivitätsniveau nicht vollends verlieren, denn ungenutzte Muskeln bilden sich zurück. Andererseits soll jedoch die persönliche Belastungsgrenze nicht überschritten werden.“ Heißt in der Praxis: Kurze Spazierstrecken werden an dem einen Tag mühelos bewältigt; am anderen jedoch schaffen Betroffene kaum den Rückweg. „Und wenn es sich lediglich um die letzten 200 Meter handelt“, so die betroffene Ärztin. Für geistige Arbeit oder Lesen fehlen Konzentration und Ausdauer. Jegliche Überanstrengung kann eine Post Exertional Malaise (PEM), also eine extreme Verschlechterung sämtlicher Symptome, auslösen. Auch Birgit Gustke weiß aus Erfahrung: „Diese Verschlechterung kann über Tage, Wochen, Monate oder für immer anhalten. Das hat nichts mit der Angst zu tun, den »sicheren Platz im Haus« zu verlassen oder »draußen zu versagen«, wie es Patientinnen und Patienten oftmals unterstellt wird.“ Vielmehr fallen im Zuge einer PEM gewöhnliche Alltagstätigkeiten wie stehend Duschen, Zähneputzen oder Rasieren schwer, sodass im Anschluss nicht selten mehrstündige Liegepausen notwendig sind. „Ein Besuch beim Haus- oder Zahnarzt ist für schwerbetroffene Patienten ohne eine anschließende PEM unmöglich“, so Birgit Gustke. „Aufgrund der geringen Vergütung finden Hausbesuche aber nur selten statt. Bei schweren Fällen von ME/CFS liegen Betroffene gar über Jahre mit stark ausgeprägten Symptomen den ganzen Tag in einem licht- und klanggeschützten Raum – geringfügige optische Reize, leiseste Geräusche oder Berührungen lösen Schmerzen aus.

Viele Gründe also für den Fatigatio e.V., klare Ziele zur Unterstützung von ME/CFS-Patientinnen und -Patienten zu formulieren. So stehe die Verbesserung der medizinischen und sozialrechtlichen Versorgung an vorderster Stelle – es dürfe keine Verharmlosung der Beschwerden stattfinden. Auch die Einrichtung spezialisierter Zentren, die ME/CFS-Patientinnen und -Patienten betreuen, soll vorangebracht werden, existieren in Deutschland bislang doch nur zwei Spezialsprechstunden für das Krankheitsbild in Berlin und München, die völlig überbeansprucht sind. Zudem müssen Hilfs- und Beratungsmöglichkeiten ausgebaut und medizinisches Personal entsprechend weitergebildet werden. Erste Erfolge konnten hier bereits über Gespräche mit Bundestagsabgeordneten erreicht werden; der Bundeshaushalt gab Mittel für eine ME/CFS-Biodatenbank und ein ME/CFS-Register frei. Über die Bewilligung des Innovationsfonds zur Versorgungsforschung kann ein CFS-Care-Konzept auf den Weg gebracht werden. In Bayern wird nach einer Petition die Verbesserung der Versorgung durch Freigabe von Forschungsmitteln vorangetrieben. In allen Fragen der Unterstützung von Patienten und Angehörigen stellt der Verein Fatigatio e.V. ein starkes Netzwerk mit Kontaktvermittlung dar, um Support bei Anträgen, Hilfsmitteln und Amtsgängen gewährleisten zu können. Leider gibt es noch viel zu wenige Ärzte mit Kenntnissen zu ME/CFS in Deutschland, um Patienten hier Empfehlungen geben zu können. Es sind also noch viele kleine und große Schritte notwendig, um eine bessere Versorgung der Erkrankten zu erreichen.

 

Laut der Kanadischen Konsenskriterien müssen zur Diagnose von ME/CFS Symptome aus folgenden Kategorien jeweils komplett oder teilweise zutreffen:

• Erschöpfung/Fatigue und Zustandsverschlechterung nach Belastung
• Schlafstörungen
• Schmerzen
• neurologische bzw. kognitive Einschränkungen
• autonome Manifestationen
• neuroendokrine Störungen
• immunologische Störungen
• Bestehen der Erkrankung seit mindestens sechs Monaten

Die Internationalen Konsenskriterien ähneln den Kanadischen stark, wesentlicher Unterschied: Die Symptome müssen nicht mindestens ein halbes Jahr lang bestehen.

fatigatio.de

Fortbildungen und Informationen werden auch über das Charité Fatigue Centrum angeboten:
cfc.charite.de

Quellen

  1. Esfandyarpour R, Kashi A, Nemat-Gorgani M, Wilhelmy J, Davis RW. A nanoelectronics-blood-based diagnostic biomarker for myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome (ME/CFS). Proc Natl Acad Sci U S A. 2019 May 21;116(21):10250-10257. doi: 10.1073/pnas.1901274116. Epub 2019 Apr 29. PMID: 31036648; PMCID: PMC6535016
  2. Schreiner P, Harrer T, Scheibenbogen C, Lamer S, Schlosser A, Naviaux RK, Prusty BK. Human Herpesvirus-6 Reactivation, Mitochondrial Fragmentation, and the Coordination of Antiviral and Metabolic Phenotypes in Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome. Immunohorizons. 2020 Apr 23;4(4):201-215. doi: 10.4049/immunohorizons.2000006. PMID: 32327453
  3. Wirth K, Scheibenbogen C. A Unifying Hypothesis of the Pathophysiology of Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS): Recognitions from the finding of autoantibodies against ß2-adrenergic receptors. Autoimmun Rev. 2020 Jun;19(6):102527. doi: 10.1016/j.autrev.2020.102527. Epub 2020 Apr 1. PMID: 32247028
  4. Sotzny F, Blanco J, Capelli E, Castro-Marrero J, Steiner S, Murovska M, Scheibenbogen C; European Network on ME/CFS (EUROMENE). Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome - Evidence for an autoimmune disease. Autoimmun Rev. 2018 Jun;17(6):601-609. doi: 10.1016/j.autrev.2018.01.009. Epub 2018 Apr 7. PMID: 29635081
  5. Scheibenbogen C. Behrends U.,. Kedor C. : Fortbildung Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) Pathomechanismus, Diffentialdiagnose, Diagnostik und Therapie. Der niedergelassene Arzt 12/2020, 71-76
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Ausgabe: 01/2021

Titelthema – Autoimmunerkrankungen