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Arbeiten, wenn andere schlafen

Arbeiten, wenn andere schlafen

Wer nachts arbeitet, darf seine Gesundheit sowie ausgleichende Freizeitaktivitäten nicht vernachlässigen. Foto: © WS Studio 1985 - stock.adobe.com
Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
5 Min.Lesezeit

Rund 16 Prozent der Erwerbstätigen im Alter von 15 bis 64 Jahren arbeiten hierzulande im Wechselschichtmodell oder auch dauerhaft in der Nacht. Mehrere statistische Erhebungen zeigen, dass viele von ihnen – nämlich 70 bis 90 Prozent – langfristig unter einer Störung des zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmus leiden. Betroffen sind wichtige Berufe, wie etwa in der Pflege, im Krankenhaus, bei der Polizei oder im Rettungsdienst. Welche gesundheitlichen Risiken drohen, weiß die Chronobiologin und Schlafforscherin Prof. Dr. Andrea Rodenbeck.

Wechselnde Arbeitszeiten, abweichende Tagesabläufe, unterschiedliche Bettgehzeiten: Menschen, die im Schichtdienst tätig sind, haben in gleich mehreren Lebensbereichen mit Einschränkungen zu kämpfen. Besonders eine Beschäftigung in der Nacht gilt dabei als herausfordernd: Wer arbeitet, wenn andere schlafen, verspürt mitunter Auswirkungen auf der gesundheitlichen wie auch privaten Ebene. Denn während Funktionen wie Puls, Atmung und Temperatur in der Nacht für gewöhnlich heruntergefahren werden und der Körper sozusagen auf „Sparflamme“ läuft, erhält er im Zuge von Schichtarbeit keine Ruhe – die innere Uhr gerät aus dem Takt und der Organismus wird auf Trab gehalten. In der Folge drohen gleich mehrere Risiken, unter anderem für Übergewicht, Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Depressionen oder Fehlgeburten. Hinzu kommt häufig eine Beeinträchtigung des Soziallebens: Das Organisieren von Familienleben, ausgleichenden Freizeitaktivitäten oder Verabredungen fällt bei Wechseldiensten schwerer als bei geregelten Arbeitszeiten.

Die Chronobiologin und Schlafforscherin Prof. Dr. Andrea Rodenbeck vom Evangelischen Krankenhaus Göttingen-Weende beschäftigt sich seit vielen Jahren mit ganz unterschiedlichen Störungen und Beeinträchtigungen des Schlafes, auch mit Blick aufs Arbeiten gegen den zirkadianen Rhythmus. Sie differenziert: „Es ist immer die Frage, ob die innere Uhr komplett oder nur teilweise aus dem Takt gerät – nicht wenigen Menschen ist es durchaus möglich, sich ein bis zwei Tage gegen den Rhythmus zu stemmen. Unter Schichtarbeit verstehen wir dabei wissenschaftlich nicht per se die reine Nachtarbeit, sondern sämtliche Tätigkeiten, die jenseits vom klassischen Zeitrahmen 06:00 bis 19:00 Uhr stattfinden.“ In diesem Falle, so die Forscherin, arbeite der Mensch gegen die drei zirkadianen Parameter Körperkerntemperatur, Cortisol und Melatonin.

In vielen Berufen ist es unerlässlich, im Wechselschichtmodell zu arbeiten: Polizistinnen, Rettungssanitäter und Feuerwehrleute, Menschen in der Pflege sowie Busfahrerinnen und Lokführer führen beispielsweise essenzielle Tätigkeiten aus, bei denen sie jederzeit ihre Konzentration hochhalten müssen. „Diese Konzentrationsfähigkeit“, so Andrea Rodenbeck, „hängt natürlich auch davon ab, wie lange ein Mensch zuvor wach war. Auch gilt es zu unterscheiden: Die Feuerwehr etwa hat traditionell 24-Stunden-Dienste, auf die wiederum 48 freie Stunden folgen. Solche Regelungen existieren bei der Polizei, im Rettungswesen oder in der Pflege nicht.“ Je inaktiver die Beschäftigung, desto schwieriger gestalte sich zudem das Arbeiten gegen den inneren Rhythmus, so die Expertin. Exemplarisch nennt sie überwachende Tätigkeiten oder Pförtnerdienste.

Morgenmenschen und Nachtschwärmer

In der Chronobiologie werden Regelmäßigkeiten und rhythmisch wiederkehrende Faktoren in der Lebensweise von Individuen untersucht. Der Chronotyp ist größtenteils genetisch festgelegt, weshalb letztlich jeder Mensch im wahrsten Sinne des Wortes anders tickt. Das zeigt sich auch bei der bekannten Unterscheidung in Lerchen (eher Frühaufsteher) und Eulen (eher Nachtmenschen) – beide Typen schlafen gleichermaßen durchschnittlich sieben bis neun Stunden pro Tag, weisen dabei nur einen jeweils anderen Rhythmus auf. Doch welche Rolle spielen diese beiden Varianten im Rahmen der Schichtarbeit? Ist es hier überhaupt möglich, sich individuell anzupassen? „Unser Chronotyp kann sich im Laufe des Lebens verändern“, weiß Andrea Rodenbeck. „Junge Erwachsene sind eher Eulen, also ein Spättyp, während der Mensch mit zunehmendem Alter immer mehr in Richtung Lerche tendiert. Es ist nicht selten so, dass ältere Arbeitnehmende besser mit der Frühschicht zurechtkommen, während die ganz Jungen die Spät- und Nachtschicht präferieren.“ Würde man diese Tatsache in der Berufswelt stärker berücksichtigen, wäre laut der Schlafforscherin schon viel gewonnen. In größeren Unternehmen sei dies auch ohne Frage möglich; problematischer gestalte sich die Situation bei kleinen und mittleren Betrieben, wo man auf Morgenmenschen und Nachtschwärmer eher weniger Rücksicht nehmen könne.                          

Oftmals ist bei Schichtarbeitenden von einer Doppelbelastung die Rede: Neben dem anspruchsvollen Job-Rhythmus müssen sie auch in anderen Bereichen Disziplin zeigen. So stellt nicht nur das Arbeiten, sondern auch das Essen, wenn andere schlafen, eine Herausforderung dar. Nächtliche Nahrungsaufnahme bedeutet, dass Blutdruck, Atmung und Herzschlag wie am Tage aktiv sind, auch wenn Puls, Verdauung und Stoffwechsel sich normalerweise im Schlafmodus befinden. Die erneute Umstellung des Rhythmus an freien Tagen bringt den Körper ebenso aus dem Takt – mögliche Folgen sind Schlafstörungen, Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Völlegefühl sowie Verstopfung. Wie ratsam ist da der Versuch, die innere Uhr mit Wachmachern oder konzentrationsfördernden Medikamenten „auszutricksen“? Andrea Rodenbeck: „Kommen solche Mittel zum Einsatz, ist es wichtig, darauf zu achten, dass nach einer Nachtschicht nicht der Tagesschlaf leidet. Sowohl bei übermäßigem Koffeingenuss als auch entsprechenden Medikamenten reagieren irgendwann die Rezeptoren nicht mehr, sodass der Körper immer weiter danach verlangt.“ Auch bei der Einnahme von Melatonin, schon seit längerer Zeit als Schlafhormon in Presse und Werbung angepriesen, gelte es laut der Chronobiologin genauer hinzuschauen: „Wir sprechen hier vielmehr von einem Dunkelhormon, das unserem Körper sagt, was er tun soll, wenn sich der Tag dem Ende zuneigt und das Licht erlischt. Melatonin kann durchaus schlafanstoßend wirken, hat aber meist auch nur dann eine Wirkung, wenn es zu einer Zeit eingenommen wird, in der die Ausschüttung im Körper ohnehin bereits begonnen hat.“ Heißt: Nach einer Nachtschicht kann der Effekt verpuffen, unterdrückt die Tageshelligkeit doch den inneren Anstieg des Hormons.

Vorwärtsrotierende Schichten als Ideallösung

Schlafprobleme und eine mangelhafte Erholung vermindern die Leistungsfähigkeit und steigern somit auch das Risiko für Fehler und Unfälle auf der Arbeit. Wissenschaftlich ist es belegt, dass der Schlaf nach einer Schicht zwischen 23 Uhr und 6 Uhr kürzer ausfällt als die gewöhnliche Bettruhe. Menschen, die im Nachtdienst tätig sind, zählen daher zu den wenigen Ausnahmen in der Schlafmedizin, denen explizit empfohlen wird, eine Mittagsruhe einzulegen. „Es ist durchaus sinnvoll, sich dann vor der nächsten Nachtschicht nochmal für rund zwei Stunden hinzulegen“, rät Andrea Rodenbeck. „Auf diese Weise lässt sich zumindest der akute Schlafmangel ausgleichen. Bei einem Arbeitsrhythmus, der alle zwei Tage eine andere Schicht vorsieht, kann sich die innere Uhr allerdings nicht daran gewöhnen – dann fällt es möglicherweise schwer, vor der nächsten Nachtarbeit nochmal ein Auge zuzumachen.“ Ideal seien daher bei wechselnden Arbeitszeiten vorwärtsrotierende Schichten, wo auf eine Frühschicht eine Spätschicht und dann die Nachtschicht folgt. Letztere sollte zudem nicht länger als acht Stunden dauern.

Nicht nur berufsbedingt kann der menschliche Körper aus dem Takt geraten, auch Jetlags oder die Umstellung auf Sommer- und Winterzeit drehen hier und da an der inneren Uhr. Immer dann, wenn vom letzten Samstag auf den letzten Sonntag im März die Uhr eine Stunde nach vorne bzw. im Oktober wieder eine Stunde zurück gestellt wird, entfacht diese Maßnahme eine Diskussion rund um die Frage, ob sie überhaupt noch sinnvoll ist. Laut Max-Planck-Gesellschaft haben Menschen mit Neigung zu Schlafstörungen hier mit verschiedenen Folgen zu kämpfen; in den Tagen nach der Zeitumstellung würden Verkehrsunfälle um sechs Prozent und die Wahrscheinlichkeit für Herzinfarkte um 24 Prozent zunehmen. Auch Andrea Rodenbeck hebt diese Problematik hervor: „Die Zeitumstellung im Frühling gestaltet sich natürlich schwieriger als jene im Herbst, da wir von Samstag auf Sonntag eine Stunde weniger Schlaf haben. Die Wenigsten beginnen bereits am Freitag zuvor, sich darauf einzustellen und früher ins Bett zu gehen – ohnehin verfügen die meisten von uns über einen gewissen sozialen Jetlag, der den Wunsch entfacht, generell lieber eine Stunde später schlafen und arbeiten zu gehen.“ Um die negativen Auswirkungen auf den menschlichen Organismus, bedingt durch wechselnde Arbeitszeiten, in den Griff zu bekommen, brauche es laut Andrea Rodenbeck vor allem bei kleineren Unternehmen, die über keinen eigenen Betriebsarzt verfügen, noch mehr Aufklärung: „Und zwar darüber, dass die Vorlieben bei Früh- und Spätdiensten unterschiedlich sein können, vor allem mit Blick aufs jeweilige Alter. Befragungen haben zudem gezeigt, dass Angestellte ihre Schichtarbeit umso weniger als belastend empfinden, je größer sich das Mitspracherecht bei der Ausarbeitung der Dienstpläne gestaltet.“ Dies zeigt sehr deutlich, dass eben nicht nur jeder Mensch anders tickt, sondern auch, wie wichtig es künftig sein wird, mehr Bewusstsein für die verschiedenen Chronotypen in unserer Gesellschaft zu schaffen.RT•        

ekweende.de


 

Das Schichtarbeiter-Syndrom

Als Schichtarbeitersyndrom werden zirkadiane Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen bezeichnet. Die innere Uhr des Körpers harmoniert in diesem Falle nicht mehr mit dem vorgegebenen sozialen Tag-Nacht-Rhythmus – vor allem bei wechselnder Schicht- oder dauerhafter Nachtarbeit. Die unterschiedlichen Tagesarbeitszeiten (Früh-, Spät- und Nachtschicht) stören den Schlafrhythmus und können zu einer exzessiv auftretenden Schläfrigkeit während der Arbeitszeit und persistierender Schlaflosigkeit während der vorgesehenen Schlafphasen führen.

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Ausgabe: 02/2025

Titelthema – Gesund schlafen