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„Die Kinder müssen von sich aus wollen“

„Die Kinder müssen von sich aus wollen“

Egal, um welche Sportart es sich auch handelt: Ein individuelles Tempo ist immer ratsam. Foto: © Kelly - stock.adobe.com
Portratitfoto des Artikel-Autors Robert Targan
Von ROBERT TARGAN (Freier Texter, Autor & Redakteur)
5 Min.Lesezeit

Unrealistische Erwartungen, negative Bewertungen oder gar herablassende Äußerungen: Manche Eltern machen es ihrem eigentlich sportbegeisterten Nachwuchs nicht leicht. Wenn Kinder einen unverhältnismäßigen Leistungsdruck erfahren, kann dies bei den jungen Nachwuchssportlern zu nachhaltigen Problemen in der Entwicklung führen. Der Diplom- und Sportpsychologe Jürgen Walter betont im Interview, wie wichtig es sei, Fehler als Teil des Erfolges anzusehen. Neben den Eltern nimmt der Experte auch Vereine und Verbände in die Pflicht.

Im Kinder- und Jugendfußball ist eine zunehmend aufgeheizte Stimmung zu vernehmen, auch bedingt durch anwesende Eltern: Ab wann nimmt das Einfordern von Leistung problematische Züge an?

Jürgen Walter: Nahezu die Hälfte meiner Klienten sind Kinder und Jugendliche, die gemeinsam mit ihren Eltern erscheinen. In meiner sportpsychologischen Ausbildung hieß es oft: Kommen Eltern mit ihren Kindern, ist nicht der Nachwuchs das Problem, es sind die Erziehungsberechtigten. Aus Erfahrung muss ich aber sagen, dass ich heute eher auf besorgte Eltern treffe, die ihren Kindern beispielsweise raten: „Quäl‘ dich doch nicht mit Tennis, such‘ dir vielleicht einen anderen Sport.“ Generell aber gilt: Das überzogene Einfordern von Leistung darf im Kinder- und Jugendbereich kein Thema sein! Ein wenig Druck von außen ist sicherlich nicht verkehrt, doch die Motivation zu mehr Leistung sollte immer von innen kommen. Die Kinder müssen von sich aus wollen. Klare Signale für eine problematische Entwicklung werden etwa durch die Körpersprache kommuniziert: Verzweiflung, Weinen, Angst vor dem Misserfolg.

Gerade im Vor- und Grundschulalter sind Kinder auf eine optimale Entwicklung angewiesen – welche Gefahren drohen, wenn sie statt Lob und Anerkennung eher Leistungsdruck oder Enttäuschung von den Eltern erfahren?

Das ist gar nicht so einfach, denn auch zu viel Lob kann problematisch sein. Wird ein Kind beim Fußball – überspitzt gesagt – für jeden mittelmäßigen Einwurf euphorisch gefeiert, ist das unangemessen. Hilfreicher wäre es, neben dem Zuspruch auch hier und da Rückmeldungen zum Spielverhalten und Tipps zur Verbesserung zu geben. Aber ja, bedenklich wird es, wenn Lob ausschließlich bei Erfolg geäußert wird. Kinder lernen dann: Möchte ich Zuwendung erhalten, muss ich erfolgreich sein. Sie werden also nicht als Person gesehen und wertgeschätzt, sondern an ihrer Leistung gemessen. Da droht die Gefahr, sich auch im späteren Leben verstärkt über den Vergleich mit den Mitmenschen zu definieren. Im Kindesalter ist das aufgrund der verschiedenen Bezugspersonen noch nicht problematisch, doch spätestens als Erwachsener sollte man sein Glück nicht nur von anderen abhängig machen. Schön ist die Abwandlung eines deutschen Sprichworts: „Eigenlob stimmt“!    

Ein individuelles Tempo ist also ratsam …

In meiner täglichen Arbeit lerne ich Kinder und Jugendliche kennen, die nach Erfolg streben, ohne sich zuvor messen zu wollen. Ich erinnere mich an einen 16-jährigen Jungen, der mir in Begleitung seiner Eltern eröffnete, in drei Jahren Fußball bei Real Madrid spielen zu wollen. Auf meine Frage, in welchem Verein er aktuelle spiele, erhielt ich die Antwort: In gar keinem. Das zeigt, dass Ziele stets realistisch sein müssen.

Wie können Eltern ihre Kinder beim Erreichen dieser Ziele begleiten?

Es gilt, Kinder spielerisch an ein potentielles Hobby heranzuführen, jedoch nicht ohne das bereits erwähnte gesunde Maß an Druck: Fragen à la „Hast Du heute Lust, zum Fechten, Fußball oder Klavierunterricht zu gehen?“ sind nicht zielführend, wenn die Alternativen Sofa und Playstation lauten. Da lohnt ein Blick in die Biografien bekannter Sportlerinnen und Sportler: Immer wieder ist dort zu lesen, dass sie ohne einen gewissen Druck der Eltern – „Du fährst jetzt zum Training!“ – nicht so erfolgreich geworden wären. Das ist ein äußerst schmaler Grat, bei dem es kein Richtig oder Falsch gibt. Kinder sind schnell überfordert, wenn sie in jungen Jahren zu viele Entscheidungen allein treffen müssen. Sie benötigen Vorgaben und Grenzen. Später sind sie idealerweise dankbar für den Druck von außen.

„Aus Fehlern lernt man“ – wie wichtig ist diese Erfahrung für Kinder, aber auch für deren Eltern?      

Stressverschärfende Gedanken wie „Mach keine Fehler“ führen nicht ans Ziel. Ich bitte meine Klienten daher gerne, die Buchstaben des Wortes „Fehler“ in eine neue Reihenfolge zu bringen. Kinder und Jugendliche sind da meist schneller als die Erwachsenen: Aus „F-E-H-L-E-R“ wird „H-E-L-F-E-R“! Fehler gehören in der Tat zum Lernprozess dazu, da gibt es viele Beispiele aus der Sportwelt. Der US-amerikanische Profigolfer Tiger Woods hat einst erklärt, es habe ihn gar nicht interessiert, ob er in seiner Karriere Fehler gemacht oder gegen schlechtere Gegner – teils in Führung liegend – verloren habe. Vielmehr sei es ihm wichtig gewesen, insgesamt immer besser zu werden. Wer sich das vergegenwärtigt, hakt Fehler gedanklich als Teil des Erfolges ab. Ich spreche hier von der „Drei-A-Methode“: Analysieren, Akzeptieren, Abhaken. Wenn man das Wort „Verlieren“ streicht, gewinnt man, oder man gewinnt an Erfahrung!

Wie beurteilen Sie den Beschluss, dass den Bundesjugendspielen durch den Wegfall von Punktetabellen der Wettkampfcharakter genommen wurde?   

Da haben sich Pädagogen – vermutlich keine Psychologen – Gedanken darüber gemacht, wie sie die Kinder weiter schützen können. Ich halte das eher für nachteilig, schließlich macht es doch gerade den Reiz einer solchen Veranstaltung aus, sich mit Gleichaltrigen zu messen und idealerweise bessere Ergebnisse zu erzielen. Dieser Wettkampfcharakter bringt schließlich auch positive Aspekte mit sich, denn das Thema der mentalen Stärke endet ja nie. Auch ich überlege heute noch nach einer Niederlage im Tischtennis, ob ich vielleicht zu viel gewollt oder zu wenig Mut an den Tag gelegt habe. Das sind doch die Fragen, mit denen sich auch Kinder irgendwann auseinandersetzen müssen.

Auch im Nachwuchsfußball stehen Regeländerungen an: So befinden sich dort künftig weniger Kinder auf dem Feld; gespielt wird teils auf vier Tore ohne Torhüter. Kann durch „Mehr Spielfreude, weniger Leistungsdruck“ die sportliche Entwicklung gefördert werden?

Das sind meines Erachtens Spielelemente, die man ins herkömmliche Training zusätzlich mit einfließen lassen könnte. Die Ideen sind ja durchaus diskussionswürdig, da vermeintlich schlechtere Spieler auf diesem Wege Unterstützung erhalten. Mit diesen vom Deutschen Fußballbund formulierten Regeländerungen werden die Kinder jedoch zu sehr in Watte gepackt, wie ich finde. Die Initiatoren befürchten durch das Erfahren von Niederlagen eine Gefahr für die Entwicklung der Nachwuchskicker – das sehe ich als Psychologe anders. Ich muss als junger Mensch lernen, zu verlieren. Das kann man übrigens besonders gut beim Schachspielen.

Welche Rolle sollten die Vereine einnehmen, wenn beratungsresistente Eltern am Spielfeldrand Druck ausüben oder gar ausfallend werden?

Im Kinder- und Jugendfußball erarbeiten immer mehr Vereine eigene Regeln für die Zuschauer am Spielfeldrand – idealerweise im direkten Dialog mit den Eltern. Diese Vorgaben drehen sich um ganz unterschiedliche Aspekte: Pöbeln, Schreien, Schiedsrichterbeleidigungen, Abwertungen, Beschimpfungen des Trainers. Benimmregeln also, die dann prominent am Platz per Banner oder Plakat kommuniziert werden. Klare Vereinbarungen, die eben nicht von oben herab, sondern im Kollektiv entstanden sind. Für die erwähnten beratungsresistenten Eltern, die da nicht mitziehen, gibt es dann so tolle Empfehlungen wie „Wäre es nicht besser, wenn das Talent Ihres Kindes künftig bei einem anderen Verein aufblüht?“ (lacht)

Wie wichtig ist es, bereits im Nachwuchssport Themen wie Schwächen oder mentale und psychische Probleme anzusprechen?

In meiner Rolle als Sportpsychologe sage ich immer: „Ab etwa dem 10. Lebensjahr kann ich helfen.“ Denn in dieser Phase erkennen Kinder allmählich, was eine Tatsache ist, und was eine Vermutung. Sie können ihre Gedanken überprüfen. Es ist wichtig, Kindern schon frühzeitig mentale Stärke und positives Denken zu vermitteln, da reden wir ja nicht nur über die Welt des Leistungssports. In der Schule etwa begegnen sie Themen wie Prüfungsangst, soziale Kompetenzen oder Teamarbeit – all das darf man doch nicht dem Zufall überlassen! Dies zeigt, wie wichtig es ist, sich frühzeitig auch mit sportpsychologischen Aspekten zu beschäftigen. Wir alle lernen doch fürs Leben.  

Druck besitzt also auch positive Seiten: Was kann die Erfahrung, herausfordernde Situationen im Kindesalter gemeistert zu haben, für den späteren Lebensweg bedeuten?  

Auch wenn Kinder das im entsprechenden Moment vielleicht noch nicht registrieren, ist es eine immens wichtige Erfahrung. Da kommen dann auch die Eltern wieder ins Spiel, die ihr Kind nach Rückschlägen trösten oder neue Wege aufzeigen sollten. Im Zweifel können dann eben auch Sportpsychologen hinzugezogen werden. Ich erinnere mich an einen 12-jährigen Tischtennisspieler, der mit seiner Mutter in meine Praxis kam. Das Problem war: Nach Niederlagen sprach der Vater drei Tage nicht mit seinem Sohn. Im Verlaufe des Gesprächs eröffnete mir der Junge, er verspüre manchmal solch einen Druck, dass er sich am liebsten mit einem Messer in den Bauch stechen würde – da werden die künftigen Patienten der Psychotherapeuten geprägt! Es braucht also auch die Niederlage als Kind. Und genauso die Eltern, die es dann auffangen und stärken.

walter-sportpsychologie.de

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